Texte

Ruth Gilberger – Bateson’s lover 1, 2021

VON SEBASTIAN BRANDL

Der angloamerikanische, Disziplin übergreifende Wissenschaftler Gregory Bateson, Mitbegründer der Kybernetik und Spieltheorie, konnte seine letzte Schrift Wo Engel zögern zu Lebzeiten leider nicht mehr fertigstellen, er starb 1980. Bateson formulierte in seinen Ausführungen zu einer Handlungstheorie in der lebendigen Welt unter anderem die „integrative Erfahrungsdimension“ des Ästhetischen: Ästhetik ist die Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet.

Diese Annahme inspirierte Ruth Gilberger 2014 zu der großformatigen Papierarbeit Bateson’s lover 1 mit den Maßen 153 x 180 cm, künstlerisch umgesetzt in einem mehrstufigen Verfahren:
Im ersten Arbeitsschritt lässt die Künstlerin nach dem Zufallsprinzip zunächst eine Gardine mit Gewebestruktur auf das Zeichenblatt fallen und betrachtet das Ergebnis mit dem Anspruch einer passenden Form des Materials; dieser Vorgang kann durchaus mehre Versuche erfordern. Sodann wird das Gewebe mit Silberlack besprüht: auf jenen Papierflächen, wo der Stoff unmittelbar aufliegt, bildet sich die Netzstruktur deutlich ab, bei überlappenden Faltungen entstehen jedoch partielle Leerstellen. Anschließend bearbeitet RG die hervorgetretene Struktur mit Bleistift und Radiergummi: die erkennbaren, silbrigen Musterflächen werden nachgezeichnet und Lücken gleichmäßig geschlossen. Danach werden die Bleistiftzeichnungen wegradiert, es verbleiben Bleistiftrückstände in den Druckstellen des Papiers, die als flächiger Bleistift-Schimmer zu sehen sind.

Diesen Vorgang des Einzeichnens und Abradierens wiederholt die Künstlerin mehrmals, bis die Emergenz der sich teilweise überlappenden Matrix sichtbar wird. Der identische Rhythmus des Musters, deren Umrisse zwischen gradlinig und gerundet variieren, definiert durch seine gleichmäßige Struktur das Motiv – das Muster sorgt für eine Verbindung, indem es eine Einheit schafft. Da auch der Bereich um die Gewebeform in unterschiedlicher Dichte mit Silberspray überzogen ist, erscheinen der/dem Betrachter*in sowohl der Hintergrund als auch Teile der Netzstruktur in einem diffusen Schimmer. Zwischen den verlaufenden Flächen und dem linearem System baut sich eine unterschwellige Spannung auf. Durch die Wahrnehmung der gemusterten Verwerfungen und unterschiedlichen Grautöne erlangt das hervorgehobene Objekt eine räumliche Tiefe, beim näheren Anschauen wechselt die/der Besucher*in unweigerlich zwischen Zwei- und Dreidimensionalität.

Nun lässt sich das Ästhetik-Muster-Theorem von Bateson hier noch weiter veranschaulichen, schließlich pingpongt das Motiv zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Fokussiert die/der Betrachter*in seine Wahrnehmungssinne auf das Gegenständliche, dann divergiert das Motiv je nach Vorstellungsvermögen beispielsweise von topografischer Landkarte, zerknüllter Folie, Umrisse einer Insel hinter Wolkenschleiern, benutztes Tischtuch bis zu Bettdecke, Meteorit usw. Und schließlich lassen sich von der assoziierten Hardware weiter zu damit in Verbindung gebrachte nichtdingliche Zuständen bzw. Empfindungen wie Einsamkeit, Freiheit, Schwerelosigkeit, Stille,… ableiten – das Publikum macht auf diese Weise eine schöpferische Erfahrung im Bateson’schen Sinne. Taucht die/der Einzelne also in diese Matrix-Zeichnung ein, mäandert sie/er durch eine Erlebniswelt, immer im Einklang mit Ihrer/seiner persönlichen Wahrnehmungs- sowie Erkenntnisfähigkeit.

Nimmt man das Portfolio von Ruth Gilberger, die Ihr Studium der Freien Kunst/Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig bei Emil Cimiotti, Edgar Gutbub und Thomas Virnich absolviert und 1995 als Meisterschülerin abgeschlossen hat, in Augenschein, so lässt sich die Arbeit Bateson’s lover 1 als stellvertretend für ihren künstlerischer Ansatz einordnen, der von einem immer wiederkehrenden Zeichenrhythmus geprägt ist. Dem gemäß steht das Blatt beispielhaft für ihr Gesamtwerk, das neben vielfältigen Streifen- und Muster-Zeichnungen auch amorphe Boden-Skulpturen umfasst, deren Oberflächen ebenfalls durch das wiederkehrende Element der Maserung dominiert werden.

Ausstellungsreihe Blasser Schimmer 01, ein Projekt von Claudia Thümler, Felix Rahne und André Schweers
Mimi e Rosa Dellstr. 36, 47051 Duisburg, Eröffnung Sonntag, 13. Juni 2021 um 16 Uhr, Ausstellung 14. Juni bis Herbst 2021

Passages of Perception into Structures, 2020

LEHR/KUELBS PROJECTS

Die Künstlerin Ruth Gilberger macht aus der neu eröffneten Galerie Martin Turck einen blau-weißen Phantasieraum.

VON JÜRGEN KISTERS, 2006

Ehrenfeld. „Ehrenfeld ist ein phantastischer Stadtteil, in dem sehr viel Neues entsteht“, sagt Martin Turck. Und daher hat der promovierte Kunsthistoriker auch ganz bewusst hier eine neue Galerie eröffnet, in der Glasstraße 65, im ehemaligen Lager eines Bestattungsunternehmens. Nachdem er den schönen Kunstraum mit der großen Fensterfront vor zwei Monaten mit Fotoübermalungen des Kölner Künstlers Georg Gartz eröffnete, präsentiert der Neugalerist jetzt seine zweite Ausstellung: Zeichnungen, Papierobjekte und eine Skulptur von Ruth Gilberger. Der Kontrast und Zusammenklang von „Blau und Weiss“ steht dabei im Wirkungszentrum der 1966 in Berlin geborenen, in Köln lebenden Künstlerin.

Ausgangspunkt aller gezeigten Arbeiten ist ein Plakat mit der Abbildung einer alten niederländischen Fayence, einem Porzellanstück aus dem 18. Jahrhundert, das Gilberger zu Tuschezeichnungen und kleinen Scherenschnitt-Objekten inspirierte. Auf das vorhandene figürlich-ornamentale Bild, von dem ihr zahlreiche Exemplare zur Verfügung standen, hat sie in Variationen mit satter blauer Tusche unterschiedliche Strukturen gezeichnet: schwungvolle Kreis, Gitteraster oder abstrakt-expressive „Kleckse“. Unter dieser freien Leichtigkeit erscheinen die traditionellen Fayencen ale eine vergleichsweise starre und langweilige Angelegenheit. Das gilt gleichfalls für die verschlungenen Papierobjekte, die sie aus den Ornament-Mustern der Vorlage herausgeschnitten und plastisch verflochten hat. Die fragilen Gebilde werfen faszinierende Schatten und fordern die Wahrnehmung spielerisch heraus. Von dieser Kraft ist auch die große Skulptur im Zentrum der Galerie, zwei einander berührende, prägnant-geheimnisvolle blauschimmernde Form-Körper. Die Bildhauerin hat sie aus zwei Ballons und der Überklebung mit unzähligen Schichten blau-weißer Tapete geschaffen, die von ihr immer wieder abgeschliffen und so in ein bezauberndes abstraktes Muster verwandelt wurden. „Vor allem abstrakte Kunst und Minimalismus interessieren mich“, sagt der in Krefeld geborene Galerist. Turck hat im niederländischen Leiden studiert, währenddessen in Amsterdam gewohnt und danach am Kunsthistorischen Institut in Aachen und in der Denkmalpflege in Dresden gearbeitet. Nachdem seine künstlerische Vorliebe lange besonders der alten niederländischen Malerei galt, entdeckte er die zeitgenössische Kunst erst richtig, als er 1994 nach Köln zog. „Das Angebot an künstlerischen Ansätzen, das die Stadt gleichzeitig an vielen Kunstorten bietet  ist einzigartig“, stellt  Turck begeistert fest. Zwei Jahre hat er intensiv über eine Galeriegründung nachgedacht, bevor er zur Tat schritt. Er weiß, dass dieses Metier kein einfaches ist. Dass ihm der Lebenslauf eines klassischen Galeristen, der zuvor als Assistent eines etablierten Galeristen tätig war, fehlt, erscheint ihm dabei allerdings weniger ein Problem. Die größte Schwierigkeit sieht er vielmehr darin, im riesigen Feld  der gegenwärtigen künstlerischen Unübersichtlichkeit eine Aufmerksamkeit für solide künstlerische Positionen zu schaffen. Nach Ausstellungen zweier Kölner Künstler wird er Mitte Dezember als Nächstes die Werke zweier junger Künstler aus Liverpool erstmals in Deutschland vorstellen.

Galerie Martin Turck, Glasstraße 65, Mi-Fr 15-19 Uhr, Sa 12-16 Uhr, bis 9.12.2006

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